Die Rohrsammlung im Depot von Kersahu
Dass die Region südlich von Lorient mit zahlreichen Festungsbauwerken aufwarten würde, war mir durch frühere Besuche noch gut in Erinnerung. Auf rund fünfzig Kilometern, beginnend mit der von Spaniern erbauten Zitadelle von Port-Louis, über Forts und Batteriestellungen französischer Bauperioden, den noch zahlreich erhaltenen Atlantikwall-Anlagen bis zur Zitadelle Vauban auf der Belle-Ile, wird man seinen Vorlieben entsprechend leicht fündig. Auf das etwas spezielle Ziel der diesjährigen Exkursion – die Rohrsammlung auf dem Schießplatz von Gavres – wurde ich durch einen Internet-Artikel von 2008 aufmerksam, in dem die baldige Schließung des Standortes in Aussicht gestellt wurde.
Champ de tir de Gavres
Am Ortsausgang von Gavres, auf der gleichnamigen Halbinsel beginnend, erstreckte sich das Sperrgebiet zur Zeit der größten Ausdehnung auf den 20 Kilometer langen Strandabschnitt bis zur Bucht von Plouharnel. Das von der „Commission de Gavres“ 1829 bestimmte Gelände für Artillerie-Übungen auf lange Distanzen nahm zunächst nur einen Teil des Marschlandes bei der alten „Batterie Verte“ ein. Das ab 1862 als „Champ de tir du polygone de Gavres“ bezeichnete Areal wurde in den folgenden Jahren erheblich vergrößert. Die Baumaßnahmen umfassten Kasernen, Pulvermagazine, die in das Watt vorspringende Landungsbrücke, neue Straßen, eine Schmalspurbahn sowie die Eindeichung und Befestigung des Küstensaums durch Mauern. Die Feuerstellung für die zu erprobenden Geschütze wurde im Bereich des ehemaligen Weilers Kersahu errichtet und seither mal als „Batterie“, mal als „Depot“ bezeichnet. Dort werden auch, in der Satellitenaufnahme gut erkennbar, die Geschützrohre aufbewahrt (GE 47°42’2.45’’N / 3°19’33.8’’W).
Ab 1972 war die GERBAM (Groupe d´ Etudes et de Recherches en Balistique Armes et Munitions) für die Anlagen verantwortlich. Seit dem 1.Januar 2010 wird ein Teil des Geländes wieder von der Marine genutzt.
Süd-Bretagne im Juni
Den Schießplatz von Gavres erreicht man von Carnac kommend über die D781. Im Ort Plouhinec zweigt die D158 in Richtung Gavres ab. Kurz bevor die Straße das Meer erreicht, um dann parallel zur Küste zu verlaufen, passiert man das ehemalige Hauptgebäude der GERBAM, das durch den aufgesetzten Kontrollturm an Terminals kleinerer Flugplätze erinnert. Ein großes Schild weist auf die Marine Nationale als neuen Nutzer hin. Mit den an der Straße immer noch aufragenden Schranken konnte während des Schießbetriebes die Verbindung nach Gavres unterbrochen werden. Entsprechende Absperrmöglichkeiten findet man auch kurz vor dem Ort. Gavres glich zu den Übungszeiten einer nur noch durch Bootsverkehr zu erreichenden Insel. Einschränkungen betreffen auch heute noch die Schifffahrt. Die Gewässer zwischen der Ile de Groix und Belle-Ile sind in unterschiedliche Gefährdungsklassen eingeteilt, die von Schiffsführern während der bekannt gemachten Schießübungen entsprechend beachtet werden müssen.
Das hinter den Dünen liegende Gelände links der Straße wird zurzeit als Schießstand für Infanteriewaffen genutzt. Ob der in einiger Entfernung auf einem Sockel auszumachende Geschützturm neuerer Bauart (100 mm Universalgeschütz L/55 Mod. 64?) noch betrieben wird ist nicht bekannt.
Bei der Weiterfahrt auf dem schmalen, 6 Kilometer langen Landstreifen der Halbinsel säumten gelegentlich halbversandete Atlantikwallbunker die Straße. Erst etwa 2 Km vor Gavres, dort wo sich das Marschland nach rechts in das petite mer de Gavres ausbreitet, sind erste Gebäude des ehemaligen Champ de tir auszumachen. Hinter dem auf einem Erdhügel thronenden Beobachtungsbunker ist ein separat gesichertes Munitions-Depot zu erkennen, dahinter die „Batterie“ mit dem Rohrlager. Vorbei an Lager- und Werkstatthallen, an deren Umzäunung noch die Protestplakate gegen die Standortschließung im Wind flatterten, erreichte ich den Parkplatz am Ortsrand. Schon bei der Anfahrt war auf dem Depotgelände, außer dem umherfahrenden Auto eines privaten Sicherheitsdienstes, keinerlei Aktivitäten zu erkennen gewesen. Bei meiner Ankunft vor dem Sperrgebiet war der Wachdienst weitergezogen. Weil die Bucht von Locmalo wegen der Ebbe trockengefallen war konnte ich die üblichen Warnschilder, die den Zugang verboten, bequem durch das Watt umgehen. Besondere Aufmerksamkeit erregte ich dort nicht, weil bereits einige pecheur a pied im Watt unterwegs waren, die an den Rändern der Prile nach essbaren Hinterlassenschaften der Flut suchten. Den Sichtschutz der Uferbefestigung ausnutzend kam ich nach 1,5 Km an mein Ziel. Hinter dem mehrstöckigen Hauptgebäude und einem von wenigen Bäumen umstandenen Erdbunker erstreckt sich auf einer Fläche von 100 x 40 Metern die Rohrsammlung.
Die Ansicht die sich mir vom Ufersaum aus bot, war wirklich beeindruckend.
Auf Stützmauern abgelegt, reihten sich großkalibrige Geschützrohre mit Sicht auf die mächtigen Bodenstücke aneinander. Da keinerlei Absperrungen den Zutritt behinderten, fand ich mich nach wenigen Schritten in einer Ansammlung von Geschützrohren, Lafetten und sonstigem Artilleriematerial wieder, die in der Form in Europa wohl einmalig sein dürfte. Wer hier jedoch eine nach üblichen Ordnungskriterien angelegte Sammlung im klassischen Sinne erwartet wird enttäuscht. Vielmehr handelt es sich um den leider ungeschützten Aufbewahrungsort vornehmlich französischer Marine-Artillerie des Zeitraumes von 1870 bis etwa 1960. Aber auch deutsches Material, das im Raum der Festung Lorient eingesetzt war, wurde nach Kriegsende hierhin verbracht. So lehnt sich z.B. das Rohrpaar einer 10,5 cm Doppelflak (10,5 cm SK C/33 in MPL C/31) an ein 38 cm Rohr.
Die vorhandenen Kaliber reichen von der 4 cm Bofors-Flak bis zu jener 38 cm Schiffskanone. Aufgemalte Ziffern und im Laufe der Zeit verblichene Modell- und Kaliberangaben lassen darauf hoffen, dass irgendwo hinterlegt ist, welche Schätze hier lagern.
Ein erster Rundgang endete bei den gewaltigen Schlachtschiffrohren mit den Kalibern 30,5 cm(4x), 34 cm(1x), und 38 cm(1x), deren tatsächliche Größe auf den Fotos leider nur zu erahnen ist.
Mit 30,5 cm Rohren Originalbezeichnung 305 mm Mle 1906 - 10 R, waren die vier, 1913 und 1914 fertig gestellten Schiffe der Courbet-Klasse bestückt (L/45 - Gewicht 54,7 Tonnen). Bei den drei, 1915 und 1916 folgenden Schiffen der Provence-Klasse war das Kaliber auf 34 cm gesteigert worden (340 mm Mle 1912 L/47,3 - Gew. 69,6 Tonnen).
Die für die Schlachtschiffe Richelieu und Jean Bart gefertigten 38 cm Rohre sind durch ein Exemplar des Baujahres 1937 vertreten (380 mm Mle 1936 C/35 Nr.10, L/45 - Gew. 110 Tonnen).[1]
Mit der sicheren Benennung weiterer Modelle war ich als unvorbereiteter Besucher, angesichts der Typenvielfalt überfordert. Einen auch nur annähernd umfassenden Überblick zu erlangen, war in der Kürze der Zeit nicht möglich (Ich wollte mein Glück, den abwesenden Wachdienst betreffend, nicht unnötig herausfordern). Zudem erschwerten Modifikationen und Abänderungen die genaue Definition. So war z.B. bei einem Modell, dessen Rohrwiege mit dem einer 340 mm Mle 1912 übereinstimmte, ein kürzeres Rohr mit kleinerem Kaliber eingezogen worden. Das zweite Exemplar einer 340 mm Mle 1912 (R 1914 Nr.4) war, wie ich später herausfand, bereits 1936 aufgebohrt worden, um Tests mit 38 cm Geschossen für die Richelieu-Klasse durchführen zu können.[2] Auf dem Rückweg gelang mir noch ein Foto von einem etwas abseits, in einer provisorischen Lafette abgelegten Rohr des Typs 32 cm Mle 1870/84. Ursprünglich ein Modell der Küstenartillerie, das auf Eisenbahngleitlafetten montiert schon während des ersten Weltkrieges eingesetzt wurde. Die Exkursion endete mit einem Rundgang durch Gavres. Der überschaubare Ort wirkte um die Mittagszeit noch recht verschlafen.
„Befestigungen sind nicht nur bloße Sperren, sondern auch bewaffnet“ – mit dieser Feststellung aus der Feder von Herbert Jäger möchte ich den bislang fehlenden Bezug zum Befestigungwesen herstellen.
Einige der hier lagernden schweren Geschützrohrtypen fanden auf Eisenbahnlafetten, in Panzertürmen und Bettungsschießgerüsten auch im Küstenschutz Verwendung.
Sechs 34 cm Rohre auf St. Chamond-Eisenbahnlafetten kamen schon 1914/18 unter der Bezeichnung “Canon de 340 mm Mle 1912 sur affut-truc a berceau“ als A.L.V.F. gegen deutsche Stellungen zum Einsatz.[3] In der Zwischenkriegszeit wurden überzählige 34er Rohre in zwei stark gepanzerten Zwillingstürmen auf der Halbinsel St.Mandrier bei Toulon installiert (Batterie Cepet). Zwei weitere Türme sicherten den tunesischen Standort Bizerta (Batterie Metline).[4] Unter dem nach der Niederlage Frankreichs 1940 erbeuteten Artilleriematerial befanden sich auch die sechs beschriebenen Eisenbahngeschütze. Zwei Exemplare wurden dem italienischen Bündnispartner überlassen. Die restlichen vier waren nach Überholungsmaßnahmen für die MKB Plouharnel 4./M.A.A.264 (E.673) auf der Halbinsel Quiberon vorgesehen. Die deutsche Bezeichnung lautete jetzt 34 cm Kanone-Wiegenlafette-(Eisenbahn) 674(f). In den vier Betonstellungen, die den Geschützen nach Demontage der sechsachsigen Drehgestelle Rundumfeuer ermöglichten, kamen aber nur drei Kanonen zur Aufstellung. Das vierte Geschütz war bis zur Fertigstellung schwerer Küstenbatterien zum Schutz der Rade von Brest, in einer provisorischen Stellung bei Camaret-s-Mer stationiert.[5]
Mit sechs an verschiedenen Orten in Frankreich vorgefundenen 38 cm Rohren sollten zwei Atlantikwall-Batterien bestückt werden.
Die für die MKB 6/501 „Nötteröy“ am Oslofjord (3 x 38 KM 36/35 (f) in Bettungsschießgerüst C/39) vorgesehenen Geschützrohre kamen 1949 im Austausch gegen drei deutsche 38er Rohre der ehemaligen Batterie Todt zurück nach Frankreich.[6]
In der für weitere drei 38er projektierten MKB Bleville 1./MAA 266 oberhalb von Le Havre war zur Zeit der Invasion erst ein Turm montiert, der aber durch Bombardierungen beschädigt worden und nicht einsatzbereit war.[7]
Nach diesem geschichtlichen Exkurs bleibt noch der Blick in die Zukunft und die Frage:
Was wird mit der Rohrsammlung geschehen?
Wenn man verschiedenen Beiträgen im Internet glauben darf, ist die Auflösung und teilweise Verschrottung bereits beschlossen. An „Exoten“ und Prototypen sei die Marine interessiert. Um das 380 mm Mle 1936 C/35 habe sich bereits die Stadt Dünkirchen beworben. Zwei weitere Großkaliber waren bei meinem Besuch bereits mit „Vierville“ beschriftet. Möglicherweise der Hinweis auf einen geplanten neuen Aufstellungsort vor einem der Museen am „Omaha Beach“.
Bei Betrachtung der Fotos daheim ist mir aufgefallen, dass eine Anzahl der Rohre mit Flatterband markiert sind. Das nährt die Hoffnung dass wenigstens die so kenntlich gemachten Stücke von der Verschrottung verschont bleiben.
Deshalb zum Schluss der Aufruf an alle, die sich für Artillerietechnik begeistern können: „Wer in der Nähe ist und etwas Zeit übrig hat, sollte schnell handeln!“ Es gilt nur die nächste Ebbe abzuwarten.
Quellenverzeichnis:
[1] Siegfried Breyer: Schlachtschiffe und Schlachtkreuzer 1905 – 1970, München 1970
[2,3,5] Jacques Tomine: Le Mur de l´ Atlantique dans la presqu´ile de Quiberon, Paris 2009
[4] M. Frijns, L. Malchair, J.J. Moulins, J. Puelinckx: Index de la Fortification Francaise
1874 – 1914, Welkenraedt 2008
[6] Friedrich Wein: Die Odyssee der 38 cm Schiffsgeschütze der “Jean Bart”, DAWA Nachrichten Nr. 28
[7] Alain Chazette: Artillerie Cotiere Atlantikwall et Südwall en France, Paris 1999
Eine detailreiche Luftaufnahme des Depotgeländes bietet die Vogelschau von Bing Maps. www.bing.com/maps/